Ode an die Freude 6

VI – Oben und Unten

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Brüder! überm Sternenzelt
Muss ein lieber Vater wohnen.

Heute würden wir bei dem Wort „Millionen“ wahrscheinlich an ein Bankkonto denken. Ich glaube nicht, dass zu Schillers Zeit diese Assoziation denkbar war. Welchen Begriff hatte aber Schiller tatsächlich im Kopf, wenn er von den Millionen spricht ?
Vielleicht waren es die Sterne am Himmel, die Gottvater uns geschenkt hat, als sich bewegende Diamanten im Dunkel der Nacht. Und wir Menschen empfinden dieses Geschenk wie einen Kuss an alle Geschöpfe unserer Welt, gesandt vom lieben Vater. Dies wäre dann auch soetwas wie eine globale Verbrüderung, wie eine machtvolle Einigkeit der Menschengestalten.
Diese Liebesbezeugung wirkt wie eine Medizin gegen die Einsamkeit. Die Nacht ist die Mutter der Einsamen. Trost spendet ihnen der leuchtende Sternenhimmel.
So dachte auch schon Antoine de Saint-Exupéry, als er einsam am weiten Himmel die riesigen Regionen Patagoniens mit seinem Flugzeug durchquerte, alleine, ohne greifbare Menschenseele in der Nähe. Aber die Schönheit der astralen Region schloss einen Vertrag mit dem Poeten – und sie erhellte sein Gemüt.
Die gemeinsame Verbundenheit der Menschheit, diese weitreichende Umarmung, nimmt uns die Einsamkeit von der Brust. Als Saint-Exupéry, mit seinem Flugzeug inmitten der Wolken, einige schwache Lichter auf der Erde entdeckte, stellte er den Zusammenhang zwischen Oben und Unten her: die Sehnsucht der Menschen nach anderen Menschen und die Ahnung von der erhellenden Schöpferkraft, sichtbar am Licht in der Dunkelheit des Universums.

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